Karriere nur mit Diplom? Warum nicht die Unternehmen das Problem sind!
Papier schlägt Charakter? Eine Frage, die mehr über unser Bildungssystem sagt als über Unternehmen
Man liest es ständig: „Unternehmen schauen nur noch auf Abschlüsse!“ Oder: „Ohne Bachelor keine Chance mehr!“ Aber ist das wirklich die Wurzel des Problems? Ich behaupte: Nein. Unternehmen sind nicht die Ursache – sie sind die logische Folge eines Systems, das sich selbst zu ernst nimmt und dabei den Blick für das Wesentliche verloren hat.
Genau darüber habe ich kürzlich auch in einem Kommentar auf LinkedIn diskutiert. Dort schrieb ich sinngemäß: Unternehmen handeln nicht willkürlich, wenn sie nach Papier entscheiden – sie müssen es. Sie können schließlich nicht jeden Bewerber zu einem zweiwöchigen Kennenlernpraktikum einladen.
Das Problem beginnt viel früher – in unserer gesellschaftlichen Erzählung von Erfolg, Titeln und „Du kannst alles werden“.

Der Druck beginnt früh: Schule, Eltern, Medien
Schon im Kindergarten wird gefragt, ob das Kind denn schon Englisch kann oder zur Vorschulförderung geht. Spätestens in der Grundschule fällt dann das „Gymnasium oder nix“-Narrativ. Der Ausbildungsberuf? Verkommt in vielen Köpfen zur „zweiten Wahl“.
Warum? Weil wir einer Generation seit Jahrzehnten eintrichtern:
„Du kannst alles werden, was du willst.“
Schön gemeint. In der Praxis führt es dazu, dass alle alles wollen – hauptsache mit Titel. Dass nicht jeder blindlings Pilot werden kann, wird dabei gern ausgeblendet. Realität? Zweitrangig. Hauptsache, der Abschluss klingt gut.
Unternehmen filtern nicht aus Bosheit – sondern aus Notwendigkeit
Stell dir vor, du bekommst 180 Bewerbungen für eine Stelle. Klar, dass man da nicht alle persönlich kennenlernt. Also filtern Unternehmen. Nach Lebenslauf, nach Abschlüssen, nach Zertifikaten. Nicht, weil sie Charakter nicht schätzen, sondern weil sie keine Wahl haben. Papier ist der erste Filter. Und in einem System, das selbst alles auf Titel und Abschlüsse ausrichtet, ist das nur konsequent.

Wenn alle nur noch studieren wollen: Ein Blick in die Statistik
Die Überakademisierung hat reale Folgen – und sie zeigen sich besonders drastisch im Rückgang klassischer Ausbildungsberufe. Hier ein paar Zahlen, die deutlich machen, wie sehr das Handwerk unter diesem Trend leidet:
Jahr | Neue Ausbildungsverträge im Handwerk |
---|---|
1992 | ca. 620.000 |
2007 | ca. 570.000 |
2020 | ca. 400.000 |
2022 | ca. 385.000 |
Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB)
Besonders betroffen sind traditionelle Berufe wie Bäcker:in, Fleischer:in oder Schuster:in – viele davon gelten heute als „aussterbend“. Die Zahl der Neuverträge in diesen Bereichen hat sich in den letzten 30 Jahren oft mehr als halbiert.
Diese Entwicklung ist nicht nur bedenklich, sie ist hochproblematisch. Denn während akademische Berufe teils in der Warteschleife hängen, fehlen in Werkstatt, Backstube und Baugrube die Hände.
🎥 Tipp zum Weitersehen: Dieses Video von Y-Kollektiv zeigt eindrücklich, wie Handwerker:innen unter dem Nachwuchsmangel leiden – ehrlich, direkt und bewegend:
Was müsste sich ändern?
- Mehr Wertschätzung für Ausbildungsberufe (auch sprachlich: Ein Bäcker ist kein „Food Production Officer“)
- Realistische Berufsberatung, fernab von „Du kannst alles sein“
- Medien, die nicht nur Influencer, Manager und Startup-CEOs feiern, sondern auch Menschen, die mit den Händen arbeiten
Wir brauchen ein Bildungssystem, das sowohl Köpfe als auch Hände fördert. Und ein Gesellschaftsbild, in dem ein Tischler genauso viel Wertschätzung erhält wie ein IT-Berater.
Fazit: Nicht die Unternehmen sind das Problem
Wenn wir ehrlich sind: Unternehmen können gar nicht anders. In einem überhitzten Arbeitsmarkt mit standardisiertem Bewerbungswahnsinn müssen sie sortieren. Und was bietet sich an? Papier.
Die wahre Frage ist: Warum geben wir diesem Papier so viel Gewicht? Die Antwort liegt nicht im HR-Büro, sondern in unserem gesellschaftlichen Selbstbild. Solange ein Ausbildungsberuf als „zweite Wahl“ gilt, wird sich daran nichts ändern.
Aber wir können anfangen, umzudenken. Heute.
Ehrliche Arbeit braucht keine Titel. Nur Respekt.
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